Höre, sieh, schweige: Waren die umgekehrten Drei Affen der Code der Abwehr?
Eine Hypothese auf Grundlage von Canaris’ Biografie und des europäischen Mottos Audi, vide, tace.
Dieser Text stellt eine hypothetische (aber schlüssige) These vor: Im Umfeld der Abwehr könnte ein „umgekehrtes“ Drei-Affen-Motiv verwendet worden sein – nicht als Passivität („nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“), sondern als operative Handlungsanweisung: hören – sehen – schweigen. Ausgangspunkt ist eine Passage aus der Biografie von Admiral Wilhelm Canaris sowie das in Europa ältere Motto Audi, vide, tace. Im Folgenden zeigen wir den Kontext, zitieren die zentrale Stelle und erläutern, was noch zu verifizieren ist.
Canaris, die Abwehr und die Logik der Diskretion
Adm. Wilhelm Franz Canaris (1887–1945) gehört zu den ambivalentesten Gestalten in der Führung des Dritten Reiches. Marineoffizier des Ersten Weltkriegs, seit 1935 Chef der Abwehr – des Aufklärungs- und Gegenspionagedienstes der Wehrmacht –, zuständig für Informationsgewinnung, Aufklärung, Sabotage und den Schutz vor fremden Nachrichtendiensten. In der Historiografie gilt er als effizienter, intelligenter und vorsichtiger Führer, der Distanz zur Parteiornthodoxie hielt.
Er wurde nicht als ideologischer Nationalsozialist wahrgenommen; er wurde mit Kreisen der militärischen Opposition in Verbindung gebracht und verdächtigt, Attentatsplänen gewogen zu sein. Nach dem 20. Juli 1944 brach seine Position zusammen: Die Abwehr geriet unter Himmlers Kontrolle und Canaris wurde abgesetzt. Anfang 1945 fand die Gestapo seine geheimen Tagebücher, die als Beleg für Illoyalität und Kontakte zu feindlichen Diensten gewertet wurden; am 9. April 1945 wurde er hingerichtet. Zugleich gab es Berichte über Hilfe für Verfolgte, etwa die Ermöglichung von Fluchten über Kanäle der Abwehr. Diese Mischung aus Fakten und Anschuldigungen macht Canaris zu einer ambivalenten Figur: Gegner parteilichen Radikalismus, zugleich hoher Offizier eines verbrecherischen Staatsapparats.
Foto: Wilhelm Canaris, ca. 1924–1931 — Urheber unbekannt; Quelle: Wikimedia Commons (gemeinfrei, Schweden).
Ein Konzept und der „Schreibtischbeweis“: die Figur und das Schiffsmodell
In Sammlerkreisen kursiert seit Jahren die Erzählung, auf dem Schreibtisch von Canaris habe eine Figur der Drei Affen gestanden—ein angebliches „Symbol des Nachrichtendienstes“. Diese Annahme wirkt kontraintuitiv, wenn man an die klassische japanische Trias „nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ denkt. Ordnung in die Sache bringt jedoch der Bericht des Biografen Karl Heinz Abshagen, der—unabhängig von späteren Debatten über seinen idealisierenden Ton—eine konkrete Szene aus dem Arbeitszimmer überliefert. Für unsere Recherche zitieren wir nachfolgend vollständig die erhaltene Passage (in polnischer Übersetzung), die wir als materielles Zitat aus dem Buch behandeln:
Es stellt sich heraus, dass Wilhelm Franz Canaris eine andere Figur als Briefbeschwerer verwendete (nach dem Biografen Karl Heinz Abshagen):
…Auf dem Schreibtisch stand, als Erinnerung an die marine Laufbahn des Chefs, ein Miniaturmodell des Kreuzers Dresden, auf dem er an den Seeschlachten bei Coronel und vor den Falklandinseln teilgenommen hatte. Daneben befand sich ein Briefbeschwerer mit drei bronzenen Affen auf der oberen Marmorplatte. Einer der Affen lauschte gespannt mit der Hand am Ohr, ein anderer blickte aufmerksam in die Ferne, und der dritte bedeckte den Mund mit der Hand; diese Affen symbolisierten das Motto der Abwehr: Ihre Mitarbeiter müssen alles hören und sehen, aber nicht schwätzen…
Karl Heinz Abshagen. Canaris. Leiter der militärischen Nachrichtendienste der Wehrmacht. 1935–1945. Reihe: Hinter der Frontlinie. Biografien. Verlag: Tsentrpoligraf, 2006. ISBN: 5-9524-2258-6. Kapitel 6.
(Erstausgabe der Biografie: Canaris. Patriot und Weltbürger, Stuttgart 1949).
Zeitgenössische Illustration (hypothetische Rekonstruktion) der Anordnung der „umgekehrten drei Affen“ — wie die Figur hinsichtlich der Gesten auf Canaris’ Schreibtisch ausgesehen haben könnte: Variante hören–sehen–schweigen (Audi, vide, tace); links lauscht, die mittlere späht (Hände wie ein Fernglas), die rechte schweigt (Finger an den Lippen).
Messingfigur „umgekehrte drei Affen“, Ende 20. Jh., Sammlung ThreeMonkeys.center — links lauscht (hören), die mittlere späht (sehen), die rechte schweigt (nicht sprechen).
Das Zitat nennt sowohl das Modell des Kreuzers „Dresden“ (ein klarer Verweis auf Canaris’ Marinebiografie) als auch einen Briefbeschwerer mit drei bronzenen Affen auf marmorner Basis. Entscheidend ist die Anordnung der Gesten: Hören – Sehen – Schweigen. Das ist nicht die klassische „nichts sehen/nichts hören/nichts sagen“-Trias, sondern eine aktive, „umgekehrte“ Variante.
Kritischer Vorbehalt:
Karl Heinz Abshagen (Erstausgabe der Biografie 1949, Canaris. Patriot und Weltbürger, Stuttgart) wird dafür kritisiert, die Person zu idealisieren. Es gibt kein Foto des Schreibtischs, das die Existenz eines solchen Briefbeschwerers bestätigt. Gleichwohl entspricht die Schilderung—nimmt man den Bericht des Biografen als indirekte Quelle—der europäischen Tradition der Maxime „Audi, vide, tace“ und der operativen Logik nachrichtendienstlicher Arbeit.
Karl Heinz Abshagen, Canaris. Patriot und Weltbürger, Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1949 — Umschlag der Originalausgabe.
„Die umgekehrten“ Drei Affen und das europäische „Audi, vide, tace“
In Japan gibt es den Begriff 変わり三猿 (kawari sanzaru) – „modifizierte drei Affen“. Statt der Negation (ich sehe nicht/ich höre nicht/ich sage nichts) tritt eine aktive Haltung auf: „Sieh – Höre – Schweige“. Dies entspricht genau der lateinischen Maxime „Audi, vide, tace (si vis vivere in pace)“ – „höre, sieh, schweige (wenn du in Frieden leben willst)“. In Europa zirkulierte diese Maxime lange, bevor der Westen die japanischen Affen kannte; sie findet sich u. a. in der niederländischen Kultur (vgl. „Horen, zien en zwijgen“) sowie in der freimaurerischen Tradition und später auch in der Symbolik von Sicherheitsinstitutionen. Dieser Ideentransfer erklärt, warum die „aktive“ Variante für Nachrichtendienste plausibel und attraktiv ist. An die Stelle der Passivität tritt ein Dreiklang operativer Grundsätze: alles hören — aufmerksam sehen — schweigen.
Oben: 変わり三猿 (kawari sanzaru) — Modifizierte drei Affen.
Unten: 見よ・聞け・言うな (miyo, kike, iuna) — Sieh • Höre • Sage nichts.
Japanische Illustration der Variante der „umgekehrten drei Affen“ — 変わり三猿 (kawari sanzaru): 見よ・聞け・言うな („Sieh • Höre • Sage nichts“).
Original vs. „aktive“ Variante
Original (Japan):
Kikazaru / 聞かざる – „ich höre nicht“ — hält sich die Ohren zu
Mizaru / 見ざる – „ich sehe nicht“ — hält sich die Augen zu
Iwazaru / 言わざる – „ich spreche nicht“ — hält den Mund zu
„Aktive“ Variante (Europa / Audi, vide, tace):
Kiku-zaru (聞くザル) — „ich höre/lausche“ (lauscht)
Miru-zaru (見るザル) — „ich sehe“ (Hände wie ein Fernglas)
Damaru-zaru (黙るザル) — „ich schweige“ (Finger an den Lippen)
Imperativversion (oft in europäischen Beschreibungen):
Kike-zaru (聞けザル) — „Hör zu!/Lausche!“ — Geste: Hand am Ohr
Miyo-zaru (見よザル) — „Sieh!/Spähe!“ — Geste: Hände wie ein Fernglas
Iuna-zaru (言うなザル) — „Sprich nicht!/Schweig!“ — Geste: Finger an den Lippen
Das Suffix –zaru (ザル) ist ein Wortspiel mit saru (猿) – „Affe“; auf dieser Doppeldeutigkeit beruht bereits das klassische mizaru/kikazaru/iwazaru.
Dies ist ein weiteres Beispiel für die umgekehrte Interpretation.
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Niederländische Aufschrift: „Horen, zien en… zwijgen“ = „Hören, sehen und … schweigen“.
Dargestellte Gesten:
der linke Affe lauscht (Hörrohr am Ohr),
der mittlere schaut/späht (Hände als Schirm/Fernglas),
der rechte schweigt (Hand am Mund; scherzhaft kopfüber hängend).
Dies ist genau die Variante hören–sehen–schweigen — das europäische Gegenstück zu Audi, vide, tace und dem japanischen 見よ・聞け・言うな.
Arbeitshypothese (ehrlich: noch ohne harte Belege)
Wir stellen eine These auf, die wir ausdrücklich als hypothetisch kennzeichnen:
Canaris könnte – privat oder im engen Kreis der Abwehr – das „umgekehrte“ Drei-Affen-Motiv als Kurzform des Berufsethos genutzt haben: alles hören, alles sehen, aber schweigen.
Warum ist das plausibel?
Inhaltliche Passung – der Sinn von Audi, vide, tace beschreibt die Aufgaben von Nachrichtendienst/Gegenspionage ideal.
Abshagens Schilderung – selbst wenn der Autor ausschmückt, passt die Gestenfolge (Lauschen, Beobachten, Schweigen) zur Logik der Abwehr.
Älteres europäisches Motto – Europa kannte diese Trias lange vor der Popularisierung der japanischen Affen; die Motive konnten sich verbinden.
Praktischer Nutzen – ein unauffälliger Briefbeschwerer konnte als „operative Gedächtnisstütze“ für Mitarbeiter und Besucher dienen.
Wichtiger Vorbehalt: Es gibt derzeit kein Schreibtischfoto oder Museumsartefakt, das genau eine solche Figur bestätigt; es handelt sich um eine stimmige Hypothese, keinen bewiesenen Fakt.
Warum dieses Thema wichtig ist
Es ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Symbole wandern und ihren Sinn verändern. Die japanische Trias wird in Europa in die Sprache dienstlicher Klugheit übersetzt. Die „umgekehrten Affen“ sind keine Satire auf Passivität mehr, sondern eine Anleitung zur Wachsamkeit. Enthält die Canaris-Anekdote auch nur ein Körnchen Wahrheit, liegt ein faszinierender Fall kultureller Anpassung von Ikonographie vor.
OFFENE RECHERCHE – WIR BITTEN UM HILFE
Dieses Thema bleibt offen; wir möchten Details verifizieren. Gesucht werden:
Ein Exemplar der Erstausgabe: Karl Heinz Abshagen, Canaris. Patriot und Weltbürger, Stuttgart 1949 (oder ein Scan des Kapitels mit der Beschreibung des Arbeitszimmers).
Fotos von Canaris’ Schreibtisch mit sichtbarem Modell „Dresden“ und dem Briefbeschwerer.
Materielle Beispiele der „umgekehrten Affen“ (Tafeln, Figuren, Kalender) aus der Zwischenkriegs-/Kriegszeit.
Nachweise für die Verwendung verwandter Motti (Audi, vide, tace; Horen, zien en zwijgen) in Dokumenten oder Andenken der Abwehr / Sicherheitsinstitutionen.
Auch ein nur bruchstückhafter Hinweis ist willkommen — schreiben Sie uns. Jede Information wird geprüft; Namensnennung erfolgt auf Wunsch.
Methodische Notiz:
In diesem Text haben wir bewusst das vollständige Zitat aus der Ausgabe Karl Heinz Abshagen, Canaris. Chef des militärischen Nachrichtendienstes der Wehrmacht. 1935–1945, Tsentrpoligraf 2006, Kap. 6 verwendet — als beweiskräftige Beschreibung aus der Biografie (mit dem Hinweis, dass die Erstausgabe von 1949 stammt). Dieser Artikel hat einen forschungs-ikonografischen Charakter. Er ist keine Glorifizierung der Dienste des Dritten Reiches; wir analysieren Symbolik und Motivtransfer. Alle Schlussfolgerungen zu den „umgekehrten Affen“ haben den Status einer Hypothese — stimmig mit der europäischen Tradition und der operativen Logik nachrichtendienstlicher Arbeit, jedoch ohne harte materielle Belege vom Schreibtisch von Canaris.
